Jahrestag

Gefeiert wird aber nichts. Letztlich ist der Vulkan aber gar nicht rum. Nicht nur wissenschaftlich, schließlich gast, beziehungsweise cozweit der ja noch rum, sondern vor allem sozial stehen wir ja noch mitten in der Katastrophe. Es mangelt an vielem. Unterkünfte, Straßen, Arbeitsplätze und vor allem Lösungen, die vielen Betroffenen, aber auch der Gesellschaft eine entsprechende Zukunftsperspektive liefern. In der Zeitung stand heute etwas von einer offenen Wunde, zum einen mit dem Verweis auf das traumatische Erlebnis des Ausbruchsgeschehens, zum anderen wegen der längst nicht bewältigten Folgen. Dabei reicht es eben nicht, dass hier die Menschen aufgeführt werden, die ihr zuhause verloren haben und teilweise immer noch in Hotels untergebracht sind, in den Blick zu nehmen. Was man hier mittlerweile für „Wohnen“ ausgeben muss, übersteigt die finanziellen Möglichkeiten von Ottonormalpalmero bei weitem. Echte Arbeitsplätze sind ebenso Mangelware. Zwar befinden sich viele in einem Beschäftigungsprogramm und einige sind noch in Kurzarbeit, aber auf langfristig kann derzeit niemand sagen, wodurch diese neuen Arbeitsplätze entstehen sollen. Unser Primärsektor, die Landwirtschaft hat viel an fruchtbarem Boden eingebüßt und im Tourismus fehlen nicht nur Betten, sondern auch Flugverbindungen. Das ist alles Geld von außen, das auf die Insel gespült wird und hier im besten Fall mehrfach durch den Kreislauf geht und dadurch den palmerischen Laden am laufen hält.

Heute nun stehen wir, wenn auch etwas im Schatten des Sarges von Elisabeth, wieder im Fokus. Das Fernsehen ist da, auch das internationale und alles redet über die momentane Situation. Ernüchternd dabei ist vor allem, dass es dabei ganz unterschiedliche Wahrnehmungen gibt. Zum einen steht da die Verwaltung, die in den letzten Monaten gerne darauf hingewiesen hat, was man alles hinbekommen hat, zum anderen sind da viele Bürger, sie das ganz anders sehen. Vor allem diejenigen die in Notunterkünften sind, findend nämlich gar nicht, dass da etwas vorwärts geht. Diese Wahrnehmung kann man durchaus verstehen, zu groß waren die Erwartungshaltungen und zu bequem war es für die Politik und die Verwaltung zu versprechen, dass niemand zurückgelassen werde, anstatt während des Ausbruchs zu sagen, dass es noch ganz happig werden würde. Dass die Betroffenen das in der Situation natürlich auch nicht hören wollten, ist allerdings auch logisch. Mut machen gehört nun mal auch zum politischen Tagesgeschäft. Schwierig an der ganzen Geschichte bleibt auch die Situation von Puerto Naos und La Bombilla. Wer die wissenschaftlichen Daten ernst nimmt, der kann das mit der geforderten Öffnung nicht wirklich befürworten.  Hier hat man die Geschichte aber viel zu lange laufen lassen und es verpasst die Situation der Evakuierten an zu erkennen. Erst nachdem es in den letzten Wochen öffentlichen Druck gab, hat man gemerkt, wie schlimm die Geschichte eigentlich ist, und hat sich in Sachen Kommunikation stark bemüht. Bei manch einem ist das aber bereits zu spät, und die Geschichte der Verschwörung dreht bereits ihre Runden. Messdaten der verschiedenen wissenschaftlichen Einrichtungen werden angezweifelt und einige vermuten ein politisches Kalkül hinter der Geschichte, weil implementiert wird, dass es dabei um finanzielle Interessen gehen würde. Jetzt ist es so, dass die Atmosphäre richtig vergiftet ist, und da darf man der Politik wirklich einen Vorwurf machen, dass nicht bemerkt wurde, wie schlimm die Stimmung bereits ist. Von dem Versprechen, dass alle Parteien an einem Strang ziehen werden, sind wir auch meilenweit weg. Wir befinden uns ganz klar im Wahlkampfmodus, und von der Gemeindeebene bis zur kanarischen Regierung lässt es keine Seite aus, dem jeweiligen politischen Gegner, die Versäumnisse auf zu zeigen.

Irgendwie scheint es gerade niemanden zu geben, der einen Plan für das große Ganze zu haben scheint. Das soll aber gar nicht als Vorwurf gemeint sein, weil mir selber ja nichts einfällt. Klar gibt es immer wieder Sachen, bei denen man denkt, dass das doch anders gelöst werden könnte, aber verantwortlich sein, möchte man natürlich auch nicht. Kommunikativ ist das aber schon nicht wirklich professionell, vielleicht sollten sich die Politiker da mal einen Psychologen ran ziehen um über die Wirkung des gesagten beraten zu werden. Wenn der Inselpräsident sagt, dass La Palma langfristig, durch den nun erzwungenen Strukturwandel, sollte er den wirklich kommen, profitieren könnte, dann hat er damit vielleicht sogar recht. Allerdings wollen die Leute, die Ihre Existenz, ob nun Zuhause oder Arbeitsplatz verloren haben, oder deren Zukunft, wie im Falle von Puerto Naos, im ungewissen ist, einfach nur ihr altes Leben zurück. In der momentanen Situation helfen solche wagen Perspektiven nicht, sondern klingen eher wie Hohn. Und deshalb ist es auch folgerichtig, dass sowohl gestern als auch heute Betroffenen auf die Straße gehen um die Diskrepanz zwischen den politischen Worten und dem tatsächlich erreichten wütend zum Ausdruck zu bringen. Natürlich fehlt es am Plan, die Erwartung, dass aber irgendwer so einen Plan in der Schublade haben könnte, oder nun aus dem Hut zaubert, ist aus Sicht der Betroffenen verständlich, aber objektiv eben auch nicht wirklich erfüllbar. Wir reden hier von der folgenreichsten vulkanischen Katastrophe der letzten hundert Jahre in Europa, und von der größten Katastrophe in der Geschichte von La Palma, wobei die Insellage den Wiederaufbau noch zusätzlich erschwert, weil wir eben keine Industrie, sondern im Prinzip nur Landwirtschaft und Tourismus haben.

Ich hasse ja Jahrestage, vor allem meine eigenen. Wie man die Geschichte nun heute angemessen begehen soll dazu habe ich keine wirkliche Idee. Zu zurückblicken reicht es noch nicht, schließlich befinden wir uns noch mitten in der Katastrophe. Das Einzige was heute eben wirklich klappt ist, dass man sich an den Moment des Ausbruchs und die komische Stimmung, zwischen Faszination und Entsetzten, erinnert und wie sich das in den nachfolgenden Tagen immer mehr in Richtung Entsetzten und Angst verschoben hat. Victor Yanes, Schriftsteller aus El Paso hat dazu schon letztes Jahr im Januar einen Text veröffentlicht der das ganz gut zum Ausdruck gebracht hat. Ich habe Ihn gefragt und ich darf den Text hier veröffentlichen. Auch wenn die Übersetzung natürlich sprachlich nie so wie das Original sein kann, ist das doch ein sehr eindrucksvoller Text:

Auch ich war ein wild gewordenes Herz, das die raue und gewalttätige Offenbarung der Natur stark spürte. Seine furiose Manifestation in Form des Aufbrechens der Erdkruste begründete einen neuen Namenstag im Kalender: den Tag ohne Vergessen.

Es war Sonntag, der 19. September 2021, 15 Uhr und 11 Minuten vor der Explosion im Inneren der Insel, als das Verhalten meiner Katze auf das bevorstehende Chaos hinwies: Sie miaute seltsam, als ob sie instinktiv etwas wüsste, und erfand eine neue katzenartige Angstmusik, und zwar in dem Moment, in dem das Magma höchstwahrscheinlich bereits mit voller Geschwindigkeit in Richtung Erdoberfläche aufstieg. 15 Uhr und 11 Minuten eines gewöhnlichen Sonntags in der Geschichte meines Lebens. Ich schaue aus dem Fenster meines Hauses, ich bin in der Gemeinde El Paso, der Gemeinde, in der der neue Berg steht, imposant, robust und jetzt endlich schlafend, und ich sehe eine hohe Säule aus braunem und weißem Rauch. Ich kann nicht denken, weil ich zu einer blinden und stummen Gefühlsmaschine geworden bin. Ich kann keine Wörter artikulieren, keine Sprache verwenden und keine Gedanken ordnen. Ich fühle nur einen Schwindel ohne rationale Maßstäbe, ein dominantes und beunruhigendes Gefühl. Ich reagiere instinktiv mit einem Atemzug, um die durch das tiefe Erstaunen hervorgerufene Unruhe zu dämpfen. Ich höre die Nachbarn schreien: „Der Vulkan ist explodiert, der Vulkan ist explodiert!

Ich verließ das Haus, eilte eine steile Straße hinauf und beobachtete erstaunt, wie eine riesige Säule aus heißem Rauch in den Himmel stieg. Das Unvorstellbare war geschehen, und ich fühlte mich dumm und glücklich, fast vor Ort Zeuge eines Vulkanausbruchs zu sein. Ein Naturschauspiel, das ich mir nur an einem primitiven Ort in meinem träumenden Geist, in meinen schrecklichen Träumen und epileptischen Halluzinationen meiner Kindheit vorstellen konnte, das aber nie diesen absoluten und beunruhigenden Realismus entwickelte.

Wir wurden gewarnt, alle wissenschaftlichen Argumente wiesen in eine Richtung, nämlich in die eines bevorstehenden Vulkanausbruchs auf der Insel La Palma. Aber aus irgendeinem noch nicht entschlüsselten Grund hindert uns ein Teil unseres Wesens daran, an den Schrecken der Katastrophe zu denken, die wie ein unübersehbares Grab in unser Leben einbricht. Wir haben nicht geglaubt, dass ein solches Ereignis in dieser Größenordnung stattfinden würde.

Das stimmt. Am Sonntag, dem 19. September 2021, öffnete sich am Westhang der Insel ein großer Spalt, die Sonne ging unter und es wurde Nacht, und der Vulkan trat in eine andere Dimension ein, nächtlich und unheimlich schön, ein lautes Orangerot wie eine Lötlampe in den Himmel, wird unser neugeborener Vulkan den Himmel verbrennen, wie wird La Palma am ersten Tag nach der Verpuffung der Erde dämmern? Und es dämmerte, ein Montag, der 20. September, ein bleierner, wolkenverhangener Tag, mit dem schlaflosen, endlosen Appetit derer, die nicht schlafen oder mit wachem Hirn schlafen, weil sie eine unbeschreibliche Ungewissheit erleiden oder weil sie sehen wollen, mehr sehen wollen, die schreckliche Erfahrung fast bis in die Epidermis ihres eigenen Körpers einschließen wollen. Der 20. September 2021 war der Tag des Terrors, der Beginn des Alptraums. Ein Tag des Wahnsinns. Es ist unwahrscheinlich, dass ich in der Lage sein werde, die Sequenzen dessen, was dort, am Westhang von La Palma, geschah, aus meinem Gedächtnis zu löschen.

Es war kein hübsches Bild mehr, kein Foto, das ich mit meinem Xiaomi-Handy geschossen hatte, es war ein überwältigendes Gefühl angesichts dessen, was ein großer Teil der Bevölkerung von La Palma noch nie gesehen hatte. Die Lavaströme bringen alles zum Einsturz, was gebaut wurde, zerstören Häuser und Familienwohnungen, die mit der täglichen Sorge um den Aufbau und die Erhaltung eines Lebensprojekts in einer ländlichen und friedlichen Umgebung errichtet wurden. Die Lust am Spektakel wurde immer größer, die Straße wurde von neugierigen Passanten überschwemmt, und Hunderte von Besuchern kamen auf den Tajuya-Kirchplatz, um den Vulkanausbruch zu beobachten und zu fotografieren. Es ist logisch, dass ein ausbrechender Vulkan begeisterte Zuschauer hervorruft, aber die Manifestation einer Art seltsamer Trance der Stimmung ohne Regeln ist nicht sehr rational. Lastwagen des Militärs und der Guardia Civil, der nationalen Polizei, der lokalen Polizei, ständige Sirenen, weinende Menschen, ein neuer Eruptionsschlund öffnet sich, sie evakuieren das Viertel Tacande, die dicken und zähflüssigen Lavazungen mit einer Temperatur von mehr als 1000 Grad bewegen sich direkt auf das Viertel Todoque zu, das erst Tage später verschwinden wird, weinende und sich umarmende Menschen, Schreie, Verzweiflung… Es gibt immer noch Bilder, die, wenn ich sie sehe, in meinen Träumen als makabre Ausstellung des Leidens wieder auftauchen. Die Dezibel des explosiven Gebrülls des Vulkans werden lauter, die Fenster der Häuser wackeln und ein kurzes, aber spürbares Erdbeben macht die ersten Stunden der Nacht zum Montag, 20. September, noch dramatischer. Das Unbehagen und die Nervosität werden zu einer einhelligen und allgemeinen Erfahrung. Eine Naturgewalt brachte uns zusammen und machte uns völlig unbedeutend, reduziert auf resignierte Bewohner einer Vulkaninsel. Viele gemischte Gefühle und ein ständiger Zweifel, wie man sterben wird, ob man an einem plötzlichen Herzinfarkt aus Traurigkeit stirbt oder an einer solchen Überwältigung angesichts der Ereignisse, die sich Minute für Minute wiederholen und die uns das Ende einer Zeit vor Augen führen, eines ganzen Viertels mit der Enklave und kulturellen Bastion seiner Kirche, die schließlich einstürzte, und alles endete, und dieser Ort hieß Todoque und das Verschwinden von Geschäften, Bananenplantagen, einem Fußballplatz, einem Friedhof und einem großen Teil des Viertels La Laguna. Die mit Habseligkeiten und Erinnerungen beladenen Evakuierungslastwagen und die Tausenden von Vertriebenen, die alles verloren haben und mit wenig oder gar nichts zurückgelassen wurden. Nachbarn von El Paraíso, Camino Cumplido, Calle Alcalá, Camino Pastelero, El Campillo…. und mir ist zum Weinen zumute, aber ich weine nicht, sondern beobachte und betrachte die monumentale Katastrophe, die unwahrscheinlich ist, weil sie unvorstellbar ist, während der Vulkan seine Explosionen fortsetzt und verstärkt, und die großen Lavabomben, die kilometerweit zu sehen sind, und der Geruch von Schwefeldioxid und die Gase, die den Himmel in ein durchsichtiges Blau färben, und der Ascheregen, der eine Mondlandschaft über den Straßen der Städte und Dörfer im Westen von La Palma entstehen lässt, und die Erdbeben und die Häuser, die sich unter ihren unangenehmen Erschütterungen bewegen, und so weiter, 85 Tage lang und ein verheerendes Informationskarussell, wenn jede Information mit einem Bild korrespondiert und jedes Bild eine menschliche Geschichte hat und jede Begegnung mit der Realität eine kraftvolle Erzählung ist und jeder Mensch eine andere Welt ist und jeder überlebt oder einfach lebt und fühlt und weitergeht, weil wir in dieser Welt, auf dieser Insel namens La Palma, die Hoffnung bewahren.